Betrachtungen des Autors von

Bonaparte at Marengo


Die Entstehungsgeschichte von Bonaparte bei Marengo geht zurück auf Schlachtkarten aus dem 19. Jahrhundert. Diese zeichnen sich visuell vor allem dadurch aus wie sie Armeen darstellen, nämlich als geometrische, gerade Linien – die eine Armee in Rot, die andere in Blau. Dieses Erscheinungsbild nenne ich ihre "Optik".

Konventionelle Konfliktsimulationsspiele haben mit dieser Optik wenig gemeinsam, denn in diesen bewegt man quadratische Kartonplättchen über ein Sechseckraster. Zwar verfügen diese Spiele über geometrische Charakteristika – diese entsprechen aber nicht die Geometrie der linearen Kriegsführung, sondern der Geometrie der Sechsecke und ihrer Ausrichtung im Wabenmuster. Erstaunlicherweise setzten alte Spiele die Optik besser um, so zum Beispiel ein deutsches Spiel aus dem 19. Jahrhundert, das den knappen Titel "Kriegsspiel" trägt: Dieses verwendete rechteckige Holzklötzchen auf Karten ohne Sechseckraster. Die Optik ist also nichts Neues für Konfliktsimulationen, sondern sie ist im Laufe der Zeit verloren gegangen. Wenn ich also Erfolg bei der Optik haben wollte, mußte mir zumindest teilweise eine Rückkehr zu diesen Wurzeln gelingen.

Natürlich kann man sich fragen, warum ich so viel Wert auf die Optik lege? Ist es nicht am Wichtigsten, daß ein Spiel einfach nur Spaß macht und daß es historisch genau ist?

Meiner Ansicht nach aber hängen diese Dinge zusammen. Wenn ein Spiel Spaß macht und wenn es sich historisch genau und visuell ansprechend präsentiert, dann wird aus dem Spiel eine Art Zeitmaschine. Denn gelungene Spiele versetzen den Spieler zurück in die Zeit und zurück an den Ort, an dem das reale Geschehen einst stattfand. Da Menschen sehr stark auf visuelle Reize reagieren, so ist dieses Ziel bereits zur Hälfte erreicht, wenn man ihnen die richtigen Zeichen gibt. Gibt man ihnen hingegen die falschen Zeichen, so steht man als Spielentwickler bereits auf verlorenem Posten, egal was man sonst alles richtig macht.

Auf der Suche nach der Optik kam mir die Idee, die rechteckigen Spielsteine des alten, historischen "Kriegsspiels" zu verwenden. Die rasterlose Darstellung des Schlachtfeldes hingegen, welche das "Kriegsspiel" mit modernen Miniatursystemen (den sog. "Table Tops") teilt, stellte sich als problematisch heraus. Denn in diesen Spielen haben kleine Unterschiede zwischen fast identischen Distanzen oft massive Auswirkungen, die nicht recht in die napoleonische Zeit passen wollen. Kein napoleonischer Feldherr hätte sich je darum gekümmert, ob der Gegner 99 oder 101 Meter weit entfernt ist! Wenn die Karte also weder rasterlos noch mit einem Sechseck-Raster überzogen sein sollte, welche Alternativen boten sich mir dann? Die einzigen anderen mir bekannten Möglichkeiten waren das "Punkt-zu-Punkt-System" und das "Zonensystem". Diese unterscheiden sich zwar in in ihrer graphischen Darstellung, sind aber in ihrer grundlegenden Funktion identisch.

Zonensysteme finden seit vielen Jahren erfolgreich Verwendung. Allerdings sind sie vor allem zur Simulation von Operationen im großen Maßstab geeignet – waren doch die wenigen Versuche, dieses System auch auf klein-maßstäbliche Szenarien zu übertragen, meist nicht von Erfolg gekrönt: Die lineare Kriegsführung des 19. Jahrhunderts wird hier noch schlechter widergegeben als in Spielen, die ein Sechseckraster nutzen.

Auf der Suche nach einer Alternative kam mir schließlich die Idee einer Variation des Punkt-zu-Punkt-Systems. Anstatt die Spielsteine auf den Punkten zu postieren, sollten sie auf den Verbindungen zwischen den Punkten stehen. Als ich mit dieser Idee ein wenig herumspielte, merkte ich rasch, daß hierfür eine Darstellung mittels Gebieten besser geeignet war, und damit war das Grundprinzip der Karte und der Spielsteine fertig: Die Karte würde sich aus Vielecken zusammensetzen, und die Spielsteine sollten eine rechteckige Form haben, so daß man sie an den Seiten der Vielecke plazieren kann.

Von diesem Moment an benötigte ich nur noch eine Spielmechanik, um der äußeren Hülle Leben einzuhauchen. Vor vielen Jahren hatte ich mich bereits mit dem Entwurf von napoleonischen Spielen beschäftigt – vor allem mit Varianten zu Frank Davis brillantem Spiel "Wellington's Victory". Dem Spiel von Davis gelingt es wirklich außerordentlich gut, die Unterschiede zwischen den einzelnen Waffengattungen, also zwischen Infanterie, Kavallerie und Artillerie, herauszuarbeiten. Hieraus bezieht das Spiel seine ganz besondere Ausstrahlung und seinen großen Charme.

Selbstverständlich lag mir ein zweiter Aufguß von "Wellington's Victory" fern. Nicht zuletzt deshalb, weil ich keine Ahnung hatte, wie ich gewisse Elemente seines Systems mit meinem optischen Design in Einklang hätte bringen können, aber auch, weil sein System im positiven Sinne komplex ist, ich aber unbedingt ein einfaches Spiel wollte. Einfachheit ist für mich das vielleicht wichtigste Ziel überhaupt, weil ich der Ansicht bin, daß der Computer, aber nicht ein Brettspiel, das richtige Medium für ein komplexes Spiel ist. In einem Computerspiel kann man die Komplexität dem Rechner übergeben, der im Hintergrund alle zeitaufwendigen Operationen in Sekundenschnelle erledigt, ohne daß sich der Spieler damit herumschlagen muß; womit der Spieler alle Vorteile eines komplexen Designs genießt, ohne hierfür die Last des Rechnens zu tragen.

Der Hauptvorteil eines Brettspiels hingegen liegt in seiner Ästhetik (die Optik wirkt auf dem großen Spielplan viel besser als auf dem pixeligen Bildschirm) und in seinem sozialen Aspekt: Während man Computerspiele am besten alleine spielt, spielt man Brettspiele mit Freunden. Aus meiner langjährigen Erfahrung war mir klar, daß Komplexität und Spieldauer enorm große Hürden für ein Brettspiel darstellen. Deswegen schwebte mir ein Spiel vor, das jederzeit aus dem Schrank geholt werden kann, wenn ein Freund zu Besuch kommt, ohne daß man den ganzen Abend mit Regelstudium und Aufbauen verbringen muß.

Die erste Schlußfolgerung hieraus war: Die Anzahl der Spielsteine muß gering sein. Denn es ist fast unmöglich, ein Spiel in einem überschaubaren Zeitrahmen zu Ende zu spielen, wenn man einige hundert Spielsteine auf dem Spielplan herumschieben muß – egal wie schwer oder wie leicht die eigentlichen Spielregeln sind. Deswegen wurde der Maßstab des Spiels dergestalt gewählt, daß die Anzahl der Einheiten überschaubar blieb.

Aus dem gleichen Grund sollten auch die notwendigen Rechenschritte so einfach wie möglich gehalten werden: nur kleine, ganzzahlige Zahlen und vollständiger Verzicht auf Bruchrechnen! Aus diesem Grund beruht das Kampfsystem auf Differenzbildung, und deswegen sind die Stärken der Spielsteine niedrig: Eins, zwei oder drei.

Eine andere mathematische Vereinfachung betraf die Bewegungsregeln. Zeitschritte und Distanzen wurden so gesetzt, daß sich Spielsteine im Normalfall nur ein Gebiet weit bewegen. Die Auswirkung von Geländemerkmalen wurde nicht mittels der üblichen "Bewegungspunkte" erfaßt, sondern wurde zum integralen Bestandteil von Form und Größe der Gebiete: Je unwegsamer das Gelände, desto kleiner das Vieleck.

Ein anderer Vorteil der Darstellung mittels Vielecken besteht darin, daß diese ohnehin groß genug sind, um Geländeeffekte direkt auf der Karte darzustellen, anstatt sie in eine Geländetabelle zu verfrachten. Die Vereinfachung der mathematischen Operationen bedeutet zugleich, daß Kampftabellen überflüssig werden. Tabellen sind ohnehin ein lästiges Thema: Meist ist es schwierig, sie auf dem Spielplan unterzubringen, ohne das Spielfeld zu vergrößern, und wenn man die Tabellen auf separate Beiblätter druckt, so empfinden dies viele Spieler als ermüdend. Ich war also froh, daß ich im Zuge der Förderung von Ästhetik und Einfachheit auf sie verzichten konnte.

Im direkten Anschluß an das Design der Karte entstanden die Regeln für "Bombardierung" und "Sturmangriff". In diese sind zwei Kerngedanken eingebettet: a) Dreidimensionale Spielsteine ermöglichen ohne großen Aufwand Geheimhaltung (flache Pappplättchen umzudrehen und im Kopf zu behalten ist recht mühsam!); b) Die Aufgabe, den signifikanten Unterschied zwischen den Waffengattungen (Infanterie, Kavallerie, Artillerie) herauszuarbeiten und diesen ihre jeweilige markante Rolle zuzuweisen, wird gelöst – so wie es mein ursprüngliches Ziel gewesen war, und womit bereits "Wellington's Victory" glänzen konnte. Das gewählte Kampfsystem verbindet beides, mit dem zusätzlichen Effekt, daß durch den Einbezug geheimer Informationen Unsicherheit entsteht – wofür in den meisten anderen Konfliktsimulationsspielen in der Regel der Würfel zu sorgen hat. Mit anderen Worten: Es war reiner Zufall, daß der Zufall im nun Gestalt annehmenden Spielsystem keine Rolle spielt.

Die Bewegungsregeln waren wohl das größte Problem. Napoleonische Infanterie und Artillerie griff niemals direkt aus dem Marsch heraus an (sozusagen stante pede). Zudem waren Infanterie und Artillerie auf dem Rückzug extrem anfällig gegenüber Kavallerieattacken. Es darf auch nicht vergessen werden, daß die Koordination der Kampfhandlungen über ein großes Gebiet weit über den Möglichkeiten der damaligen, kurierbasierten Nachrichtenübermittlung lag. Um diese für die Zeit typischen Probleme zu simulieren, testete ich verschiedene Regelvarianten: In einigen operierten die Truppen wie moderne Panzerverbände, in anderen war die Verfolgung eines zurückweichenden Gegners nahezu unmöglich, so daß die französische Seite stets einen leichten Sieg mittels eines Rückzugs erringen konnte. Ich entschied mich deswegen für Regeln, welche Fühlungshalten und Flankenangriffe ermöglichen und die die Kommandoeinschränkung mit einbeziehen. Diese Regeln führen dazu, daß sich zurückziehende Infanterie und Artillerie auf den Hauptstraßen massiert, während Kavallerie flexiblere Manöver durchführen kann.

Betrachtet man das fertige Design als Ganzes, so ist es überaus interessant, daß die ursprüngliche Suche nach der Optik zu einem Spiel geführt hat, welches zahlreiche Konventionen gängiger Konfliktsimulationsspiele über Bord wirft, ohne daß dies jemals meine Absicht gewesen wäre. Während des gesamten Entwicklungsprozesses wurden meine Entscheidungen allein von der Optik und von der Haptik bestimmt; und davon was möglich und unmöglich, was leicht und was schwer ist. Das Endergebnis ist ein Spiel, welches sich deutlich von den meisten Konfliktsimulationen unterscheidet, welches aber – zumindest hoffe ich das – genauso unterhaltsam und interessant zu spielen ist, wie es zu entwickeln war.

Bowen Simmons

übersetzt von
Benjamin Spicher
und Richard Stubenvoll